Ob Christian Lindner auch Kinder isst?
Die Tortenattacke auf Christian Lindner ist nur die Spitze einer bereits lange andauernden Diffamierungsorgie. Was sagt das eigentlich über uns und unser Politikverständnis?
Christian Lindner muss ein sehr unangenehmer Mensch sein. Ein Mensch, dem man eigentlich nicht begegnen will. Ein Mensch, der Kinder hasst, wie nicht nur ein Hashtag in den Sozialen Medien suggeriert, sondern auch eine Tagesschau-Parodie, die auf Youtube über 200.000 Views eingesammelt hat. Ein Mensch, der nur nach Reichtum und Besitz strebt, aber keine Freundinnen und Freunde mehr hat, wie der Comedian Julius Fischer in einem Text zu Erziehungsfragen bei Spiegel Online insinuierte (komplett ohne dass der Rest des Essays irgendwas mit Christian Lindner zu tun gehabt hätte; ist das schon ein Fetisch?).
Christian Lindner, das scheint nicht nur unter Internettrollen, sondern auch unter formal hochgebildeten Mitgliedern der kreativen Klasse weitgehend Konsens zu sein, darf man nicht nur alles zutrauen, sondern auch alles unterstellen. Und hat so ein Mensch nicht auch irgendwie verdient, dass ihm eine Aktivistin der Linkspartei bei einem Wahlkampfauftritt eine Torte aus Rasierschaum ins Gesicht geklatscht hat? Nicht nur in der Social Media-Redaktion des Stern konnte man dieses Gefühl nicht vollständig verstecken und schaffte es selbst nach dem Entfernen des geschmacklosen Posts nicht, eine echte Entschuldigung zu formulieren.
Der Hass auf Christian Lindner scheint wie ein Fetisch einer vulgärlinken Blase zu sein, der durchaus dem ähnelt, was Annalena Baerbock oder Ricarda Lang aus der rechten Szene entgegenschlägt. Ich finde all diese Phänomene gleichermaßen entsetzlich und frage mich, was die Eltern von Julius Fischer oder der Social Media-Redakteure beim Stern wohl über das Verhalten ihrer Sprösslinge sagen würden. So erzieht doch niemand seine Kinder, oder? Ich will das einfach nicht glauben. Wo bleibt bei denen, die sonst so gerne von Solidarität, Humanität, Mitgefühl und Menschlichkeit sprechen, die Menschlichkeit?
Dazu kommt, dass es einfach nicht stimmt. Also: alles.
Ich kenne Christian Lindner persönlich noch aus einer Zeit, als er zwar schon Politiker war (Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen), aber noch keinen Personenschutz brauchte und nicht dauernd auf der Straße erkannt wurde. Bevor ich ihm aber bei der Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes bei Flips und Bier in der Küche persönlich begegnet bin, kannte ich ihn bereits aus der Öffentlichkeit - und muss gestehen, dass ich kein allzu gutes Bild von ihm hatte. Zu glatt wirkte er auf mich, zu ambitioniert. Wie jemand, der alles ein bisschen zu sehr wollte. Diese Wahrnehmung war nach einer Weile des persönlichen Gesprächs dann allerdings recht schnell verflogen.
Christian Lindner und ich unterscheiden uns in vielen Dingen. Er ist Jäger, ich bin Vegetarier. Er besitzt einen alten Porsche - ein Liebhaberobjekt -, mir sind Autos komplett egal. Er trägt gerne Anzug, ich hasse Anzüge. Wir unterscheiden uns nicht nur in unserer Herkunftsgeschichte (wenn ich ehrlich bin, bin ich eher derjenige von uns, der mit dem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen ist, obwohl ihm das immer wieder unterstellt wird), sondern auch im Habitus. Und doch sind wir seit inzwischen rund zwei Jahrzehnten mal loser, mal enger befreundet. Vielleicht trifft es das Wort Wegbegleiter recht gut, um unsere Beziehung zu beschreiben. Wie geht das? Und warum ist das aus meiner Sicht eine wichtige Frage?
Ich habe wirklich viele Freundinnen und Freunde, die ganz andere Leben als ich selbst führen. Manche sind Unternehmer mit der Verantwortung für zahlreiche Angestellte (was ich als Belastung empfinden würde), andere sind in Festanstellungen und halten im Maschinenraum von Unternehmen, in Verwaltungen und in Schulen dieses Land am Laufen (was für mich persönlich eine Horrorvorstellung wäre) und wieder andere sind im Ehrenamt in der Feuerwehr oder im Sportverein seit Jahren und Jahrzehnten aktiv und verpassen kaum einmal einen Termin (was mit meinem Lebensmodell komplett kollidieren würde). Ich habe Freunde, die nicht wählen. Ich habe Freunde, die grün, sozialdemokratisch, links oder konservativ wählen. Und ja, ich habe sogar Freunde, die AfD wählen.
Warum wir trotzdem befreundet sind, hat damit zu tun, dass wir uns entschieden haben - in den meisten Fällen wohl eher unbewusst, als bewusst - den jeweils anderen so zu nehmen wie er oder sie ist. Wir haben genügend gemeinsame Überzeugungen, um auszuhalten, dass das Gegenüber nicht genauso ticken muss, wie wir selbst. Und wir haben Respekt für den jeweiligen Lebensentwurf des anderen. Solange gewisse Grenzen nicht überschritten werden (dazu gehören bei mir jede Form der Frauenfeindlichkeit, Rassismus oder Antisemitismus) halten wir uns gegenseitig - mal besser mal schlechter - aus.
Vielleicht fällt mir das einigermaßen leicht, weil ich recht gut aushalte, wenn jemand anderes in manchen Fragen ein bisschen mehr das ist, was ich gerne wäre (ich bin kein neidischer Mensch). Während Christian Lindner seit Jahren eiserne Disziplin aufbringt, um in diesem Land etwas zu bewegen, bin ich eher ein Quartalsengagierter und bin ansonsten ganz zufrieden mit meinem unaufgeregten Leben in einer deutschen Mittelstadt. Während ich Geburtstage von Freunden regelmäßig vergesse, habe ich von Christian Lindner jedes Jahr eine SMS, eine Whatsapp oder gar einen Brief zu meinem Geburtstag bekommen. Doch es geht darüber hinaus. Ich erinnere mich noch recht gut an eine Situation vor rund 15 Jahren als es bei mir gerade gar nicht lief. Ich hatte einen Post auf Facebook abgesetzt, aus dem man meine Frustration herauslesen konnte. Man konnte ihn aber auch dramatischer lesen (was mir gar nicht so bewusst war). Er wird sich selbst vermutlich nicht daran erinnern, aber es war Christian Lindner, der sich als erstes bei mir meldete und mich fragte, ob er mir - ganz konkret auch beruflich oder gar finanziell - helfen könne. Ich fand das bemerkenswert, ich bin dankbar, dass ich solche Menschen um mich habe und ich bemühe mich, gerade in solchen Fragen ähnlich verlässlich zu sein.
Isst Christian Lindner also möglicherweise keine Kinder? Und ist er vielleicht ganz anders als das Zerrbild in der Öffentlichkeit, das von ihm gezeichnet wird?
Ich schreibe diesen Text vor allem, um zu sensibilisieren. Es sind aufgeheizte Zeiten und die Sozialen Medien verleiten uns dazu, nur noch ungehemmter aufeinander einzuschlagen. Dabei vergessen wir leider schnell einmal, dass hinter den Zielen unserer Wut Menschen stecken, die alleine dafür, dass sie eben Menschen sind, verdient haben, dass sie menschlich behandelt werden. Menschen übrigens, die auch Partner, Familien, Freunde haben, die den Hass mit aushalten müssen. Aber damit nicht genug.
Nehmen wir das Beispiel Kindergrundsicherung, über das die Ampel (Gott habe sie selig) über Jahre gestritten hat. Niemand würde Lisa Paus, der grünen Familienministerin, unterstellen, dass sie die katastrophalen Gesetzesentwürfe zur Kindergrundsicherung extra so schlecht gestaltet hat, um sicherzugehen, dass kein Geld bei den Kindern ankommt und nur für ihr eigenes Umfeld Versorgungsposten zu schaffen. Und das ist auch richtig so. Aber warum ist es dann so weit verbreitet, dem ehemaligen Finanzminister Christian Lindner zu unterstellen, ihm seien arme Kinder egal und deshalb habe er die Kindergrundsicherung blockiert? Warum geht man bei Lisa Paus davon aus, dass sie es gut meint und bei Christian Lindner, dass er es böse meint? Wieso schaffen so viele Menschen es nicht, sich zumindest einen Moment vorzustellen, dass möglicherweise beide - Paus und Lindner - das Ziel verfolgen, bessere Möglichkeiten für arme Kinder zu schaffen? Nur eben, dass sie unterschiedliche Wege für richtig halten? Das ist doch der Kern der liberalen Demokratie, der Meinungsstreit unter Wohlmeinenden!
Es scheint mir einen unguten Trend zu geben, dem leider zunehmend auch Wählerinnen und Wähler aus der Mitte unterliegen: Wir unterstellen - beeinflusst von einem House-of-Cards-Denken - all jenen, die anders ticken als wir selbst, sehr schnell, dass sie nicht einfach nur eine andere Meinung haben, sondern eigentlich Teil einer großen Verschwörung sind. Das Ergebnis ist fast zwangsläufig ein zynischer Blick auf Politik. Wie wäre es, wenn wir - jenseits von den politischen Kräften, die tatsächlich offensichtlich das Spiel fremder Mächte spielen wie die AfD und das BSW - den Politikerinnen und Politikern der demokratischen Parteien erst einmal unterstellen würden, dass auch sie idealistisch und aus einer persönlichen Überzeugung heraus handeln?
Ich bin kein Fan von Robert Habecks Wirtschaftspolitik. Aber ich bin überzeugt, dass er das tut, wovon er persönlich überzeugt ist. Ich halte Friedrich Merz für einen Mann, dessen Zeit eigentlich schon vorbei ist. Aber ich würde ihm nie unterstellen, dass er keine Überzeugungen hat. Ich halte Olaf Scholz für einen schlechten Schauspieler und einen zögerlichen Kanzler. Aber ich glaube ihm, dass er aus einer sozialdemokratischen Sozialisierung heraus handelt. Und natürlich bin ich davon überzeugt, dass Christian Lindner sich das Finanzministerium nicht ausgesucht hat, weil es das bequemste Ressort ist, sondern weil er davon überzeugt war (und ist) dort am meisten bewegen und dieses Land ein Stück weit liberaler machen zu können.
Ich wollte diesen Text eigentlich schon länger einmal schreiben, die Tortenattacke war nur der Anlass, es tatsächlich zu tun. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Politikerinnen und Politiker Angst haben müssen, wenn sie öffentlich auftreten. Das gilt für Christian Lindner und Annalena Baerbock, aber auch für Alice Weidel oder Sahra Wagenknecht. Und ich möchte nicht in einem Land leben, in dem sich Demokraten gegenseitig unterstellen, nur das Schlechteste zu wollen. Es ging in diesem Text also um Christian Lindner. Aber es ging nicht nur um ihn. Eigentlich geht es sogar eher um uns. Denn wenn wir den Menschen, die in Deutschland Politik machen, nur mit Argwohn entgegentreten, gehen uns irgendwann die Idealisten verloren.