Was die FDP sein kann (oder sein muss)
Die Liberalen haben vom Wähler den Auftrag zur Neuaufstellung bekommen. Die Aufgabe geht allerdings weit über die Frage hinaus, wie man in Zukunft mehr als fünf Prozent bekommt.
Dieser Text entstand in den Wochen zwischen der Bundestagswahl und dem FDP-Bundesparteitag 2025. Er ist allerdings das Ergebnis eines Analyse- und Denkprozesses, der bereits einige Jahre andauert. Nichtsdestotrotz kann er nicht anderes als ein Denkanstoß sein, alles andere als fertig. Ich freue mich, falls die neue Führung der FDP sich davon inspirieren lassen sollte. Ich bin auch bereit, im Rahmen meiner Möglichkeiten an der Umsetzung an der einen oder anderen Stelle mitzuarbeiten. Vor allem aber bin ich bereit, über jeden einzelnen Satz zu diskutieren. Wer ins Gespräch kommen möchte, schreibt mir an christoph.giesa@gmail.com oder nutzt die Kommentarfunktion. Den ganzen Text als Google Doc gibt es hier zur freien Verfügung.
Einleitende Gedanken
Am 16. Und 17 Mai 2025 steht der Bundesparteitag der FDP an, bei der es vor allem um die Frage gehen wird, wer die Partei in den nächsten zwei Jahren führen und damit die Post-Lindner-Ära einleiten soll. Was dort allerdings noch nicht entschieden wird, ist die Frage, ob und wie der Neustart gelingen wird, Strategiepapiere und Parteitagsbeschlüsse hin oder her. Impulse für die Neuaufstellung zu entwickeln (bzw. diesen Raum zu geben) wird die Aufgabe des dann gewählten Präsidiums und Vorstands sein. Und anders noch als nach dem verpassten Wiedereinzug in den Bundestag 2013 wird es nicht nur um eine inhaltliche, prozessuale und personelle Erneuerung der Partei gehen, sondern vor allem um die Frage, welche Verantwortung sie und mit ihr die liberale Idee in Zeiten, in denen das Modell der liberalen Demokratie innen- wie außenpolitisch unter Druck steht, zu tragen in der Lage sein wird. Das ist ein nicht geringer Unterschied zur letzten APO-Zeit.
Der Erfolg der neu aufgestellten FDP bei anstehenden Wahlen wird sich nicht allein daran messen lassen können, ob und wie weit man es über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft hat. Vielmehr wird die Frage relevant sein, ob die einzige liberale Partei der Mitte einen relevanten Beitrag zur Stabilisierung der liberalen Demokratie beigetragen hat. Oder konkret: Die FDP ist nicht erfolgreich, wenn sie mit sieben, neun oder elf Prozent im Parlament sitzt, aber rechts und links die Zahl der Demokratiefeinde noch größer geworden ist. Der FDP erwächst damit eine Aufgabe, die sie allerdings auch annehmen muss. Wenn ich versuche, diese in einem Satz zusammenzufassen, würde dieser in etwa so lauten:
Der Anspruch der FDP muss sein, die Stimmen auf sich zu vereinen, die die großen demokratischen Mitbewerber verlieren - und noch dazu einige Menschen aus dem Milieu der Nicht- und AfD- und BSW-Wähler zurückzugewinnen.
Wir leben in einer Zeit, in der aus geopolitischer Unruhe eine massive innenpolitische Unruhe entsteht, die Reflexe hervorruft, die man verstehen muss, um klug zu handeln. Die Menschen können sich die Zukunft, die anders zu werden scheint als die Gegenwart, in der Regel nicht vorstellen, deshalb greifen sie nach vermeintlich Altbewährtem. Die AfD verspricht ihnen genau das – ein Zurück in die alte Bundesrepublik, bzw. behauptet, das zu tun. Linke und BSW arbeiten erfolgreich mit DDR-Nostalgie. Natürlich ist der Weg in die Vergangenheit verbaut. Aber wer will das hören, wenn der Blick nach vorne Angst macht? Die Aufgabe der FDP muss es daher sein, den Menschen eine Zukunft zu versprechen – greifbar, vorstellbar – und sie davon zu überzeugen, dass sie es ist, die diese herbeiführen kann. Den Weg dorthin kann Demoskopie nicht abbilden. Das iPhone hat sich auch niemand gewünscht, solange es nicht existierte. Es braucht daher Fähigkeiten, auf die auch die FDP sich erst ehrlich prüfen muss.
Diese Herausforderung wird nicht mit einigen kosmetischen Korrekturen zu erfüllen sein. Eher operative Fragen, wie etwa eine Entscheidung für eine Doppelspitze können und müssen diskutiert werden. Sie sind aber nicht kriegsentscheidend. Das Ringen um die Zukunft der Partei, insbesondere aber die Frage, welche wichtige Rolle sie in der parlamentarischen Demokratie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten spielen soll, bedarf anderer Debatten. Welche das sein könnten, versuche ich im Folgende zu skizzieren – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Ein paar Gedanken zur jüngeren Vergangenheit
Wie immer nach krachenden Wahlniederlagen gibt es in Parteien einen Deutungsstreit darüber, wer oder was genau denn nun wirklich für die Abwanderung von wesentlichen Teilen der Wählerschaft gesorgt hat. Nicht selten haben diese Analysen auch schon etwas mit persönlichen Ambitionen der Analysierenden zu tun. Das ist legitim, aber nicht unbedingt zielführend. Zumal die meisten Wählerinnen und Wähler sich erfahrungsgemäß schon wenige Wochen nach dem Wahltag nicht mehr an das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter oder einzelne umstrittene Wortmeldungen erinnern. Die FDP hat die Wahl sicher nicht in den letzten Wochen vor der Wahl verloren. In dieser Zeit hat sie es nur nicht geschafft, das zuvor verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen.
Auch über die Frage, wie genau dieses Vertrauen über die Zeit verlorengegangen ist, lässt sich sicher trefflich streiten. Auch das ist nur begrenzt sinnvoll. Ich habe im Wahlkampf alles und das genaue Gegenteil davon als Begründung gehört, warum die FDP nicht mehr wählbar ist. Den einen war die FDP zu links (wegen Ampel), den anderen zu rechts (wegen Streit in der Ampel). Den einen war die FDP zu dogmatisch, die anderen hätten sich einen noch kompromissloseren Kurs gewünscht. Manche meinten, mit Lindner würde das sowieso nix mehr, manche andere meinten, ohne Lindner hätte man gar nicht mehr hoffen brauchen. Für einige war Marie-Agnes Strack-Zimmermann der Grund, die FDP nicht mehr zu wählen, für andere war sie der einzige Grund, die FDP noch zu wählen. Und während von den „Friedensdemos“ Worte wie „Kriegstreiber“ in die Sitzungssäle wehten, äußerten dort Experten Kritik an der zu zurückhaltenden Gangart gegenüber Putin. Insofern hat wahrscheinlich jede persönliche Analyse, die einen oder einzelne dieser Punkte aufgreift, eine Teilwahrheit für sich – und liegt gleichzeitig in Teilen falsch. Ich will versuchen, auf diese vermeintlich widersprüchlichen Wahrnehmungen eine Antwort aus der Metaperspektive zu geben. Und ich will dafür einen kleinen Exkurs zu den Grünen wagen.
Während die FDP bei den letzten fünf Wahlen Ergebnisse zwischen 4,3 und 14,6 Prozent erzielen konnte, bewegten sich die Grünen nur in einem Bereich zwischen 8,4 und 14,8 Prozent. Es scheint also dort eine Kernwählerschaft zu geben, die die Partei auch in schwierigen Phasen sicher über die Fünf-Prozent-Hürde trägt. Und das, obwohl das Wählerpotenzial sich nicht allzu sehr von der Größenordnung des Potenzials der FDP zu unterscheiden scheint. Was haben die Grünen also in der Vergangenheit strategisch richtiger gemacht als die FDP? Die kurze Antwort darauf scheint mir, dass sie eine größere Vertrauensbasis haben. Egal, ob die Grünen plötzliche Gas in Katar kaufen oder sich für Luftschläge gegen Serbien aussprechen: Irgendwo rund um acht Prozent der Wählerinnen und Wähler vertrauen ihnen, dass es sich bei diesen Entscheidungen nur um Umwege auf dem Weg zu einem größeren Ziel handelt, nämlich dem ökologischen Umbau der Bundesrepublik, Europas, ach, der Welt! Selbst gröbste Fehler oder gar Skandale wie der rund um den ehemaligen Staatssekretär Graichen (wer erinnert sich überhaupt noch?) haben keine stark negative Wirkung auf das Wahlverhalten potenzieller Grünenwähler. Und am Ende der auch bei den Grünen ungeliebten Ampel stand nicht wie bei der FDP der Absturz, sondern gerade einmal ein Verlust von 3,3 Prozentpunkten. Das zeigt eine aus liberaler Sicht unverständliche, aber doch beneidenswerte Resilienz der Grünenwähler. Diese Fähigkeit der Wählerbindung der Grünen geht der FDP ab wie keiner anderen Partei in Deutschland. Das ist eine Problembeschreibung – und sollte nicht als Aufruf falsch verstanden werden, die Grünen in der politischen Ausrichtung nachzueifern. Es geht um politische Strategie, und die hat erstmal keine Farbe.
Auf der Suche nach dem großen Warum sind mir Parallelen zwischen der Zeit unter Guido Westerwelle und den Jahren unter Christian Lindner aufgefallen, die vielleicht eine erste Antwort liefern können. Die größten Erfolge der FDP in den letzten Jahrzehnten folgten jeweils auf eine längere Zeit der Opposition (elf Jahre 2009 und acht Jahre 2021) unter einem noch unverbrauchten Vorsitzenden (Westerwelle bzw. Lindner). Das bringt den Vorteil mit sich, dass man selbstbewusst Kritik äußern kann, weil man noch nicht an dem gemessen werden kann, was man selbst in der Regierung geleistet hat. Die Gefahr dabei ist allerdings, dass man als Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Politikideen und politische Wünsche dient – und diese im schlimmsten Fall alle gleichermaßen nicht erfüllt. Guido Westerwelle wie Christian Lindner wurden von disruptiv denkenden Unternehmern in der Hoffnung gewählt, dass sie mehr modernes Management und Geschwindigkeit in die Politik bringen. Das wollten aber weder Angela Merkel noch Olaf Scholz. Und als kleinste Regierungspartei kommt man dann an Grenzen. Andere haben die FDP gewählt, weil sie sich nicht als links ansehen, aber mit dem verkrusteten Gesellschaftsentwurf der Union nichts anfangen konnten. Sie haben zwar die gesellschaftspolitischen Fortschritte in der Ampel gesehen, die FDP aber eher als Bremser wahrgenommen. Wieder andere wollten vor allem niedrige Steuern (schwierig in Zeiten eines Angriffskriegs mit explodierenden Kosten) und bekamen das Selbstbestimmungsgesetz und die Liberalisierung im Bereich Schwangerschaftsabbrüche (was beides Teil des FDP-Wahlprogramms war, aber wer liest so etwas schon, wenn es ihm nur ums eigene Portemonnaie geht?). Anders gesagt: Das Erwartungsmanagement war weder 2009 noch 2021 besonders gelungen. Hätte man sich klarer positioniert, hätte man möglicherweise nicht ganz so breit erfolgreich sein können. Aber man hätte eben auch weniger Menschen enttäuscht. Für die Zukunft gehört dieser Gedanke in jeder strategischen Bewertung und Entscheidung dazu.
Womit wir wieder bei meiner Wahrnehmung aus dem Wahlkampf wären. Es ist nicht in erster Linie die Frage, ob die FDP sich nun linker oder rechter aufstellen soll, staatstragender oder radikaler. Ich behaupte: Nichts davon allein wäre eine Antwort auf die Frage, wie man in Zukunft ein kluges Erwartungsmanagement hinbekommt. Zumal ich die ganz großen inhaltlichen Konfliktlinien in der FDP derzeit gar nicht sehe. Bei allen Unterschieden in der Schwerpunktsetzung gibt es niemanden von Relevanz am „linken“ Flügel der FDP, der nicht marktwirtschaftlich denken würde und niemanden von Relevanz am „rechten“ Flügel der FDP, der nicht verstehen würde, dass Liberalismus nicht nur wirtschaftliche Freiheit, sondern auch Menschen- und Bürgerrechte beinhaltet. Dass einzelne Lautsprecher ein Gefühl des Gegenteils vermitteln, geschenkt. Der Großteil der Partei hat mit diesen Leuten wenig am Hut. Dass natürlich über konkrete Forderungen diskutiert wird, ist in einer Partei der Normalzustand und sollte nicht als Problem verstanden werden. Geschlossenheit ist in einer demokratischen Partei kein Selbstzweck. Dass Vorsitzende eher auf Geschlossenheit pochen, ist verständlich, muss aber von der Partei nicht immer akzeptiert werden. Im besten Fall sind es sogar die Vorsitzenden, die den Diskurs moderieren.
Mit Blick auf die Zukunft würde ich aus der Vergangenheit vor allem mitnehmen wollen, dass das die FDP sich um eine breitere Vertrauensbasis bemühen, bei dieser ein klügeres Erwartungsmanagement betreiben und sich noch dazu um eine breitere personelle Aufstellung in der Außenwahrnehmung bemühen sollte. Unterschiedliche Schwerpunkte sind dabei okay, aber im Ton sollte man einen gemeinsamen Kurs finden.
Umfeldanalyse
Als liberaler Demokrat muss man sich unter den derzeitigen weltpolitischen Umständen einen Erfolg der schwarz-roten Regierung (ich nenne sie bewusst nicht mehr GroKo) wünschen. Allein, mir fehlt der Glaube (und dieser Teil war geschrieben, bevor Friedrich Merz im ersten Wahlgang nicht als Kanzler gewählt wurde). Mit Blick auf die Ukraine traue ich dem neuen Kanzler deutlich mehr über den Weg als Olaf Scholz und ich halte es auch für richtig, dass mit der Neubesetzung des Außenamtes die Zeit der so genannten feministischen Außenpolitik vorbei ist (die übrigens nichts mit Feminismus zu tun hat, aber dazu bei Gelegenheit mehr). Aber ansonsten sehe ich derzeit nichts im Koalitionsvertrag, was nicht unter der Überschrift ambitionslos zu subsummieren wäre. Nicht wenige Kommentatoren sehen mit Blick auf die nächsten Bundestagswahlen die Gefahr, dass die schwarz-rote Koalition wie ein Brandbeschleuniger wirkt und die Wahlergebnisse der AfD (und der Linken und des BSW) in noch schwindelerregendere Höhen treiben könnte. Ich würde das nicht ausschließen, bin aber überzeugt, dass es in der Politik keine unveränderliche Pfadabhängigkeit gibt. Vielmehr sehe ich in diesem Szenario eine Aufgabenbeschreibung für die FDP (und die Grünen, aber das soll hier nicht weiter erörtert werden). Die oben schon angedeutete Leitfrage für alles, was die neue FDP-Führung anstößt, muss sein: Wie kann die FDP sich für die kommenden Jahre als seriöse Alternative für enttäuschte Wählerinnen und Wähler von Union und SPD positionieren, Protestwähler von der AfD zurückgewinnen und damit das demokratische System (und ganz nebenbei sich selbst) stabilisieren?
Es ist offensichtlich, dass die FDP vor allem Wählerinnen und Wähler an die Union und die AfD verloren hat. Ein Vorschlag als Reaktion auf diese Entwicklung, den man tatsächlich immer wieder hört, wäre nun, sich stärker an der Politik von Union und AfD zu orientieren. Dahinter steckt der Glaube, dass man nur mehr so werden muss wie die, an die man Stimmen verloren hat, um diese Stimmen zurückzugewinnen. Nur ist das ein naives Verständnis von Politik und ein unterkomplexer Blick auf die Wählerinnen und Wähler gleichermaßen. Vor allem aber verbietet es sich gleich aus mehreren Gründen. Der wesentliche liegt auf der Hand: Die Union denkt von einem starken Staat aus, den Liberale ablehnen. Und die AfD denkt von Kollektiven aus, in denen das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte keinen Platz haben. Würden Liberale anfangen, konservative oder gar rechtsextreme Politik zu übernehmen, würden sie aufhören Liberale zu sein (und damit ganz nebenbei ihr Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Parteienlandschaft aufgeben).
Dass der Vorwurf, AfD-Positionen zu übernehmen, nicht nur gegenüber der Union, sondern auch gegenüber der FDP von linker wie von rechter Seite schon seit einiger Zeit geäußert wird (und teilweise sogar von Sympathisanten übernommen wird) ist nicht automatisch ein Zeichen, dass dieser Prozess tatsächlich im Gange ist. Es ist vielmehr vor allem Ausdruck eines gemeinsamen Interesses der politischen Gegner. Die AfD und ihr Umfeld haben natürlich ein Interesse daran, so zu tun, als ob all diejenigen, die Probleme etwa im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik benennen, nur Trittbrettfahrer der Rechtsextremen wären. Denn das führt einerseits dazu, dass potenzielle AfD-Wähler sich ermutigt fühlen, umso mehr die AfD zu wählen, da diese die demokratischen Parteien vor sich herzutreiben scheint („AfD wirkt“), andererseits wird dadurch in der öffentlichen Wahrnehmung auch die so genannte Brandmauer (über deren konkrete Definition man durchaus streiten kann, nicht aber über den Kern der Idee) als zunehmend überflüssig und unsinnig wahrgenommen. Der linke Flügel von Grünen und SPD sowie die Linke und ihr Vorfeld haben ein Interesse daran, Union und FDP als faschismusanfällig zu framen und zu unterstellen, man wolle ja eigentlich mit der AfD und bereite dies Schritt für Schritt vor, weil sich damit ein Teil der Bevölkerung aktivieren und mobilisieren lässt (ehrlicherweise der Teil, der nicht mehr liest als Überschriften und sich seine politische Bildung auf TikTok aneignet). Gegen diesen gemeinsamen Meinungsblock anzukommen ist schwierig, aber die Antwort darauf darf eben gerade nicht sein, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Dazu weiter unten mehr.
Ich bin überzeugt: Die Nische der FDP ist und bleibt in der Mitte. Das Wahlprogramm der FDP im Jahr 2025 unterschied sich nicht allzu sehr von dem im Jahr 2021 oder dem aus dem Jahr 2017. Was damals für viele Menschen gut klang, klingt jetzt nicht plötzlich schlecht. Es fehlte nur – siehe oben – das Vertrauen, dass man die Forderungen auch tatsächlich mit Leben zu füllen in der Lage wäre. Also einfach weiter so? Nein, natürlich nicht. Die FDP muss sich entwickeln – und an vielen Stellen auch verändern. Der Blick muss aber nicht nach links oder rechts gehen, sondern nach vorne. Es braucht Visionen für dieses Land, die von anschlussfähigen und vertrauenswürdigen Menschen vertreten werden und es braucht eine ganze Reihe neuer Fähigkeiten.
Es braucht die Fähigkeit, groß zu denken
Wir Menschen lassen uns von großen Ideen begeistern. Egal, ob es nun die Idee der Mondlandung oder der Besiedlung des Mars‘, die Erschaffung einer Welt ohne Atomwaffen oder ohne Atomkraftwerke oder nationale Großmachtphantasien sind (ich habe ganz bewusst Beispiele von verschiedenen Enden des politischen Spektrums genommen). Vergleichbar ambitionierte Ideen aus der Mitte hört man kaum noch. Das hat auch etwas mit Deutschland zu tun. Olympische Spiele auf deutschem Boden? Mehrfach abgelehnt. Mutige Architektur? Unbeliebt und zu teuer. Disruptive Technologien oder Gentechnik? Scheitern an Bürokratie oder Bürgerinitiativen. Das kann (und muss) man bedauern. Aber die Problembeschreibung allein reicht nicht. Denn was bei uns nicht funktioniert, entsteht woanders. Die Faszination macht nicht an Ländergrenzen halt, der sehnsüchtige Blick vieler Menschen geht dann plötzlich nach Dubai, Saudi-Arabien oder China. Das kann Liberalen nicht gefallen. Aber man durchaus davon lernen. Die FDP muss es schaffen, eine mutige nationale Vision zu entwickeln, die gleichzeitig groß genug ist, um zu begeistern, und konkret genug, um nicht unrealistisch zu sein (dass es Menschen geben wird, die das trotzdem so sehen werden, geschenkt). Das ist nicht „nice to have“, sondern eine Kernherausforderung. Länder mit großen Rohstoffreserven können Zustimmung über die Einführung Rentenökonomie erkaufen. Diese Möglichkeit haben wir nicht. Der Versuch, Zusammengehörigkeit über ethnische oder religiöse Gemeinsamkeiten zu definieren, muss in einer längst multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in Vertreibung und Vernichtung enden. Es bleibt also nur ein gemeinsames Ziel, das umso wichtiger ist, je stärker unter Druck Gesellschaften stehen und je diverser sie sind. Ich glaube, das kann nur ein gemeinsam definiertes Verständnis von Höchstleistung, Umgangsformen und Solidarität sein, in dem die Herkunft, Ethnie, Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Sexualität Gegenstand von persönlichen Gesprächen, nicht aber von politischer und gesellschaftlicher Selektion sind. Dies kann nur gelingen, wenn aus einer von vielen Menschen geteilten Vision konkrete Ziele werden. Vom Großen ins Kleine anstatt Klein-Klein also.
Es braucht die Fähigkeit, in Lösungen zu denken
Anstatt sich im tobenden Kulturkampf entweder auf die eine oder andere vorgezeichnete Seite zu stellen (Kettensäge versus Status quo, autoritäres Durchregieren versus partizipativen Stillstand, Grenzen zu versus alles wie gehabt, alles für das Klima versus nichts gegen den Klimawandel) muss die FDP sich als diejenige Partei positionieren, die auf bekannte Probleme mit neuen Lösungen reagiert. Singapur als weitgehend vergessenes Beispiel schaffte den Sprung vom bettelarmen Entwicklungsland zu einem der reichsten Länder der Welt – ohne natürliche Ressourcen, wohlgemerkt – genau dadurch, dass man sich nicht an den Antworten orientierte, die in der damaligen Zeit alle gegeben hätten. Und auch die erfolgreichen Bürokratieabbau-Initiativen in den USA (etwa die Cockrell-Kommission) basierten auf neuen Wegen – etwa der beispielhaften Optimierung einzelner Prozesse, anstatt einer allgemeinen Forderung nach dem Abbau von Bürokratie, ohne hinreichend konkret zu werden. Heckenschere statt Kettensäge eben, wenn man es mit den Worten von Prof. Stefan Kolev sagen will. Die FDP hat mit der Aktienrente gezeigt, dass sie so denken und arbeiten kann. Sie sollte dieses Prinzip auf die wichtigsten politischen Themenbereiche ausweiten und die Ruhe der APO nutzen, sich möglichst konkret auf eine Rückkehr in den Bundestag und in die Regierung vorzubereiten. Aber konkret und partizipativ und unter Nutzung neuer technologischer Möglichkeiten.
Es braucht die Fähigkeit zur Metapolitik
Die FDP muss von den Wahlgewinnern lernen. Die Union kann man bei dieser Analyse getrost außen vorlassen, hat sie doch trotz all der Stimmengewinne von der FDP eines der schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte eingefahren. Anders sieht es bei den Grünen, den Linken und insbesondere der AfD aus. Was diese drei Parteien gemein haben, ist ein funktionierendes Vorfeld. Bei den Grünen sind das NGOs und Vereine von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis hin zu Fridays for Future und nicht wenige Journalistinnen und Journalisten, die aus genau diesem Umfeld den Marsch in die Redaktionsstuben erfolgreich geschafft haben. Dazu kommen zahlreiche Lifestyle-Influencer und Anti-Rassismus-Aktivistinnen, um die sie sich allerdings zunehmend wieder mit der Linken ein Wettbuhlen liefern, weil diese mit ihren jungen, neomarxistischen Frontfrauen so etwas wie die reine Lehre anbieten und keine Kompromisse in einer Koalition eingehen mussten. Die AfD spielt das Instrumentarium der Metapolitik noch einmal virtuoser, nicht nur in den Sozialen Medien. Zahlreiche Podcaster, Coaches und Influencer mit riesigen Reichweiten und noch mehr normale Bürger verbreiten kostenlos AfD-Werbung. Weil sie in ihrer Sprache angesprochen werden. Weil die (vermeintlichen) gemeinsamen Interessen sichtbar gemacht werden. Der Kern dafür liegt in Thinktanks und (Online-)Medien, in virtuellen und realen Akademien, privat finanziert. Nichts von alldem kann die FDP derzeit vorweisen. Das muss sich ändern. Und damit ist nicht gemeint, dass mehr FDP-Politiker lustige Videos auf Tiktok posten. Die Herausforderung ist deutlich komplexer. Ein Schlüssel muss dabei sein, einzelne Gruppen von Menschen gezielt anzusprechen, die für liberales Gedankengut ansprechbar sein sollten, bisher aber nicht das Gefühl hatten, dass sie mitgemeint sein könnten. Junge, aufstiegsorientierte Männer etwa werden derzeit gezielt von der AfD und ihrem Umfeld angesprochen (man denke nur an die Tiktok-Videos von Maximilian Krah), müssten aber ihre politische Heimat eigentlich bei der FDP haben. Nur sagt ihnen das niemand (vor allem nicht die FDP). Ähnliches gilt für relevante migrantische Gruppen, etwa Russlanddeutsche, die von der AfD gezielt angesprochen werden (auf Russisch und mit Themen, die für sie äußerst relevant sind), mit ihrem Leistungswillen und ihrer Geschichte aber eigentlich für freiheitliche Politik erreichbar sein müssten. Für Liberale ist das Individuum die relevante Referenzgröße. Das soll auch so bleiben. Es reicht aber nicht, zu hoffe, dass das Individuum schon erkennen wird, dass es mit liberaler Politik mitgemeint ist. Die Ansprache muss deutlich zielgerichteter erfolgen und noch dazu nicht nur durch Parteiwerbung während der Wahlkämpfe, sondern im vorpolitischen Raum durch ein liberales Vorfeld, das nun wirklich dringend aufgebaut werden muss.
Es braucht die Fähigkeit zur Professionalisierung und Aktivierung
Wenn es einen Teil der Vergangenheitsbetrachtung gibt, bei dem sich die meisten Liberalen einig sein dürften, dann dürfte das die Feststellung sein, dass zu viele Entscheidungen zentralisiert und ohne Beteiligung der Mitgliederbasis abgelaufen sind. Genauso wenig dürften allerdings die meisten bestreiten, dass dahinter eine Strategie der Professionalisierung stand. Was also tun? Die einfache Antwort: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dass es in der Realität einfacher gesagt, als getan ist, die richtige Mischung zu finden, ist auch bei anderen Parteien zu beobachten. Dennoch muss der Versuch gewagt werden. Auch mit Blick auf die Befähigung zur Metapolitik braucht es beides, auf jeden Fall aber eine Basis und ein Unterstützerumfeld, dass Willens und in der Lage ist, liberale Ideen nach außen zu tragen. Am besten geschieht das nicht (nur) durch Kommunikationsstrategien, sondern durch Einbindung. Gleichzeitig kann sich eine Partei im heutigen Wettbewerbsumfeld nicht mehr darauf verlassen, dass die ehrenamtliche Basis in ihrer Freizeit die richtigen Strategien und inhaltlichen Forderungen entwickelt, die die Partei und das Land voranbringen. Mehr Raum für Kompetenzen und Ideen von Mitgliedern und Unterstützung, aber professionell aufbereitet und entwickelt; wie das gehen könnte, das sollte ein Teil der Aufgabenbeschreibung für Vorstände und Geschäftsstellen sein.
Es braucht die Fähigkeit zur Personalentwicklung
Um auch nur ansatzweise in der Lage zu sein, die zuvor skizzierten Fähigkeiten zu entwickeln, braucht es in Zukunft besseres Personal – in den Geschäftsstellen, bei den Mitarbeitern in den Abgeordneten- und Fraktionsbüros, aber auch bei den Abgeordneten. Der Anspruch muss sein – unabhängig von politischen Unterschieden – strategisch und handwerklich dem politischen Gegner in der Regel überlegen zu sein. Weder in der Legislatur 2009 bis 2013 noch in der vergangenen Wahlperiode wurde dieses Ziel erreicht. Das heißt nicht, dass in den Reihen der Liberalen nicht durchaus politisch talentierte, strategisch und handwerklich klug handelnde Persönlichkeiten zu finden gewesen wären. Es heißt nur, dass diese Beschreibung auf einen zu großen Teil der Abgeordneten und des Stabs eben nicht zutraf. Mir ist klar, dass das auch etwas mit der allgemeinen Verfasstheit von Parteien zu tun hat, in denen immer auch Engagement und Sitzfleisch dafür sorgen kann, dass man mit Mandaten und Jobs belohnt wird. Und doch bin ich davon überzeugt, dass es mit einer Art der Personalentwicklung, bei der man ganz gezielt politische Talente identifiziert, fördert und bildet und sie auf ihrem Weg durch die Institutionen unterstützt, möglich ist, die Durchschnittsqualität der Verantwortungsträger zu erhöhen. Sich darauf zu verlassen, dass dies durch die Arbeit der Kreisverbände, Jungen Liberalen oder Stipendiaten aus dem Stiftungsumfeld passiert, hat sich in der Vergangenheit nicht als ausreichend herausgestellt.
Fazit
Henry Kissinger hat es schon vor einiger Zeit gut auf den Punkt gebracht: Jede Gesellschaft, unabhängig von ihrem politischen System, befindet sich unweigerlich in der Kluft zwischen einer Vergangenheit, die ihre Erinnerungen prägt, und einer Vision der Zukunft, die ihre Entwicklung inspiriert. Auf diesem Weg ist Führung unverzichtbar. Entscheidungen müssen getroffen, Vertrauen aufgebaut, Versprechen gehalten, ein Weg nach vorn beschritten werden. Häufig macht man sich auf den Weg zu einem Ort, den sich kaum jemand vorstellen kann. Im Rückblick wirkt der Prozess dann selbstverständlich, man denke nur an den Übergang Deutschlands zur liberalen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg. In der fragilen Zeit, die zwischen dem Aufbruch und dem Ankommen liegt, ist von dieser Selbstverständlichkeit allerdings nichts zu spüren und die Möglichkeiten, falsch abzubiegen, sind zahlreich.
Deutschland (und nicht nur Deutschland) ist aufgebrochen, ohne ein Ziel zu haben. Nicht, weil man es sich ausgesucht hat, sondern weil die Welt sich verändert hat und die alte Realität einfach verschwunden ist. Weil eine klare Vision und entsprechende Führung fehlen, wirken die falschen Abzweigungen – egal ob an ihnen nun die AfD, das BSW, die Linke, Islamisten oder andere Sektierer stehen – derzeit für viele Menschen verlockend. Weil ihnen niemand aus der demokratischen Mitte eine Zukunft skizzieren kann, in der sie einen Platz haben, der ihnen Sicherheit, Würde und Wohlstand in einer funktionierenden Gesellschaft garantiert, werden die Versprechungen der Sirenen, die ihnen genau diese Angebote auf Kosten anderer Gruppen in der Gesellschaft machen, immer verlockender.
Die FDP wird dieses Problem für Deutschland selbstverständlich nicht allein lösen können. Sie hat aber aus zwei Gründen eine besondere Verantwortung. Der eine Grund wurde weiter oben schon skizziert. Es ist die Konstellation, in der nur die FDP enttäuschten Wählern der schwarz-roten Parteien eine Alternative aus der Mitte anbieten kann. Der andere Grund liegt bereits in ihrer DNA begründet: Die FDP ist als liberale Kraft die einzige Partei, die nicht im einen oder anderen Umfang auf das Kollektiv, sondern auf das Individuum setzt. Das urliberale Konzept der Sicherstellung von Lebenschancen kann zwar gewisse Gruppen gezielt in den Fokus nehmen (man denke an Dahrendorfs sprichwörtliches katholisches Mädchen vom Land), setzt aber immer auf den einzelnen Menschen, das Individuum, mit seinen Wünschen und Zielen. In Zeiten, in denen unterschiedliche Gruppen verstärkt um den Zugang zu staatlichen Töpfen ringen – und andere Gruppen pauschal ausschließen wollen –, ist es fast schon systemrelevant, dieser Entwicklung kluge liberale Angebote entgegenzustellen.
Die FDP hat eine Zukunft, wenn sie die Größe ihrer Aufgabe erkennt, in der Lage ist, aus Problembeschreibungen Zukunftsvisionen zu entwickeln und es schafft, an der Spitze wie in der Breite so aufzutreten, dass viele Menschen in Zukunft sagen: Ich stimme nicht mit jeder einzelnen Personalie, Äußerung, Zielsetzung und Entscheidung überein, aber die FDP gibt mir Hoffnung und ich kann darauf vertrauen, dass sie ein Konzept für eine gute Zukunft für dieses Land und seine Menschen hat.